Leben verbinden. Beziehungen als Problem des Biografen

Leben verbinden. Beziehungen als Problem des Biografen

Organisatoren
DoktorandInnen des Promotionsprogramms „ProMoHist“, Ludwig-Maximilians-Universität München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.07.2011 - 15.07.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Desiderius Meier / Paul Munzinger, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Akteurszentrierte Ansätze sind in der historischen Forschung seit einigen Jahren zunehmend in den Fokus gerückt und gewinnbringend weiterentwickelt worden. Die Biografik muss heute längst nicht mehr um ihre wissenschaftliche Anerkennung in der Geschichtswissenschaft kämpfen, wie dies noch zu Zeiten der Hochkonjunktur sozial- und strukturgeschichtlicher Forschungsparadigmen der Fall war. Die Neue Biografieforschung betrachtet die Beziehungen zu Familie, Freunden und politischen Weggefährten als integralen Bestandteil der Lebenswelt eines Individuums. Diese Tendenz wird durch neue Konzepte wie die Geschichte der Emotionen oder der politischen Kommunikation unterstützt.

Unter dem Titel „Leben verbinden. Beziehungen als Problem des Biografen“ fand am 14. und 15. Juli 2011 am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München ein Workshop statt, der sich zum Ziel setzte, diese neuen Forschungsansätze zusammenzuführen und sich mit den methodischen und inhaltlichen Problemen biografischer Forschung auseinanderzusetzen. Organisiert wurde die Veranstaltung von den DoktorandInnen des Promotionsprogramms „ProMoHist“ der LMU München, das sich so erstmals der wissenschaftlichen Öffentlichkeit präsentierte. Der Anspruch des Programms, eine Plattform wissenschaftlichen Austausches zu sein, lag auch dem Workshop zugrunde, wie die Veranstalterinnen Daniela Gasteiger und Andrea Stahl in ihrer Einleitung hervorhoben.

An der Schnittstelle von Biografik und Erinnerungsforschung setzte der Vortrag von CHRISTINE HIKEL (München) an, die über „Sophie Scholls Schwester. Eigenes und fremdes Leben schreiben“ referierte. Die Aufarbeitung der Lebensgeschichten ihrer 1943 als Widerstandskämpfer hingerichteten Geschwister Sophie und Hans war für Inge Scholl zentraler Lebensinhalt. Zum einen im familiären Bereich, wo Inge Scholl, selbst kein Mitglied der Weißen Rose, bemüht war, die Biografien der Geschwister rückwirkend wieder mit dem eigenen Leben zu verbinden. Und zum anderen in der Öffentlichkeit, wo Inge Scholl das historische Vermächtnis ihrer Geschwister als Nachlassverwalterin und Biografin nach 1945 maßgeblich mitgestaltete. Im Deutschland der frühen Nachkriegszeit, einer Phase neuer historischer Selbstverortung, trat Inge Scholl als öffentlichkeitswirksame und ihre Deutungshoheit bisweilen misstrauisch verteidigende Wächterin über das geistige Erbe Sophie und Hans Scholls in Erscheinung. Sie spielte somit eine zentrale Rolle für die Erinnerungskultur um die Weiße Rose und den deutschen Widerstand allgemein.

Auf einer anderen Ebene biografischen Arbeitens bewegte sich das Referat von TAMAR AMAR-DAHL (Berlin) über „Shimon Peres und die Widersprüche des Zionismus“. Im Zentrum standen nicht persönliche Beziehungen, sondern das Denken und Handeln der politischen Person Shimon Peres, der seit den 1950er Jahren durchgehend eine prägende Rolle in der israelischen Politik spielte. Anhand einer „vorstellungsgeschichtlichen“ Analyse der zahlreichen Schriften, Reden und Interviews von Peres gelangte die Referentin zu Ergebnissen, bei denen es letztlich um das Verständnis der israelischen Geschichte ging: Besonderes Gewicht legte sie auf die Beschreibung der geistigen Grundlagen des Staates Israel, die sie weitgehend gleichsetzte mit Peres’ „zionistischem Projekt“, seinem „Lebenswerk“. Hierbei trat Amar-Dahls eigene kritische Haltung klar zutage. Ihre engagiert vorgetragenen, kontrovers aufgenommenen Thesen gipfelten in der fragwürdigen Behauptung der „Inkompatibilität“ der israelischen Staatsräson mit einer friedlichen Lösung des Nahostkonflikts.

Die Einbeziehung privater und politischer Beziehungen in die biografische Darstellung stand im Mittelpunkt des Vortrags von DANIELA GASTEIGER (München), die über „Probleme und Zugänge zu einer Biografie Kuno von Westarps (1864-1945)“ sprach. Anhand der persönlichen, politischen und gesellschaftlichen Verflechtungen Westarps veranschaulichte Gasteiger zentrale Probleme des deutschen Konservatismus in der Weimarer Republik. Für Westarp ergeben sich vier zentrale Beziehungskonstellationen: Familie, Freundschaften, monarchistische Kreise im Umfeld der Hohenzollern und die spannungsreiche Beziehung zu Alfred Hugenberg. Westarp kann als ein Beispiel der Deradikalisierung in der Weimarer Republik gelten, wie Gasteiger anhand der zunehmenden Entfremdung zwischen Westarp und dem Völkischen Albrecht von Graefe demonstrierte. Die Bereitschaft Westarps zur konstruktiven Mitgestaltung der Weimarer Politik führte letztlich zu dessen Isolierung innerhalb der DNVP, die er 1930 verließ, und zur Marginalisierung seiner politischen Konzepte.

Konservative Personennetzwerke der Weimarer Republik standen auch im Fokus des Vortrags „Netzwerke und Ideen. Über den Zusammenhang von Biografik und Intellektuellengeschichte“ von CLAUDIA KEMPER (Hamburg). Ihr Interesse galt dabei insbesondere dem Verhältnis und der wechselseitigen Beeinflussung persönlicher und intellektueller Beziehungen. Als Untersuchungsobjekt für ihr Vorhaben, Kollektivbiografie und Intellektuellengeschichte zu verbinden, diente ihr der jungkonservative „Juniklub“, der von 1919 bis 1925 die Wochenzeitschrift „Das Gewissen“ herausgab. Dabei widmete sich die Referentin nicht allein Moeller van den Bruck, Ikone der „Konservativen Revolution“ und Mitbegründer des „Juniklubs“, sondern befasste sich mit dem gesamten Netzwerk des jungkonservativen „Denkkollektivs“. Kemper betonte dabei den kommunikativen Charakter der Intellektualität und arbeitete die Bedeutung informeller Beziehungen und persönlicher Interaktion für den Zusammenhalt der heterogenen Gruppe heraus.

Den offiziellen Höhepunkt des Workshops, mit dem gleichzeitig „ProMoHist“ feierlich eröffnet wurde, bildete der Abendvortrag von THOMAS ETZEMÜLLER (Oldenburg), der sich der Frage widmete: „Wie kann und wie sollte man die Biografie eines intellektuellen Paares schreiben?“ Etzemüller präsentierte dabei Ergebnisse seiner Studie über das schwedische Ehepaar Alva und Gunnar Myrdal. Für die Biografie der Myrdals verwies Etzemüller auf den zentralen Zusammenhang zwischen Lebenspraxis und politischem Handeln. Alva und Gunnar Myrdal traten als Vorkämpfer einer utopischen Gesellschaftsordnung hervor, die die Fehlentwicklungen der Moderne zu überwinden suchte. Die Ideale dieser Gesellschaftsreform, ein vernunftgeleitetes Leben, eine ebenbürtige Ehegemeinschaft, funktionale Kindererziehung und modernes Wohnen, inszenierten die Myrdals öffentlichkeitswirksam innerhalb der eigenen Familie. Hinter dieser Fassade aber war das Familienleben durchaus von Friktionen und Zerwürfnissen geprägt. Gerade am Beispiel der Myrdals erweise sich, so Etzemüller, dass eine Biografie immer einer narrativen Konstruktion folgt. Was auf den ersten Blick als unaufhaltsame Erfolgsgeschichte erscheint – unter anderem erhielten beide den Nobelpreis – differenzierte Etzemüller zu einer von Brüchen und Ambivalenzen durchzogenen Biografie eines intellektuellen Paares.

Ein zentrales Problem bei der Analyse von Beziehungen ist die Frage, was „Freundschaft“ in einem bestimmten historischen Zusammenhang bedeutet. Für vier Referenten stand dieser Aspekt im Mittelpunkt. Über „Politische Freundschaft bei Hofe. Nahbeziehungen als Machtinstrument im französischen Hochadel des 17. Jahrhunderts“ sprach CHRISTIAN KÜHNER (Florenz). Dem Hof kam während der Herrschaft Ludwigs XIV. eine zentrale politische Bedeutung zu. Hier konzentrierten sich die französischen Eliten, hier traten sie in Konkurrenz um Machtressourcen, für die die Nähe zum Herrscher entscheidende Voraussetzung war. Geprägt waren die Beziehungen der Höflinge durch die Bildung politischer Allianzen, die aber in aller Regel ebenso rasch wieder zerfielen, wie sie entstanden waren. Die Bildung fester Gruppen blieb aus. Die Netzwerkanalyse, so hob Kühner hervor, stelle daher kein geeignetes Werkzeug dar, um die Kurzlebigkeit dieser Allianzen analytisch zu erfassen. Demgegenüber sei „Freundschaft“, für Kühner Quellen- und Analysebegriff zugleich, in ihrer funktional-politischen Bedeutung am besten in der Lage, die spezifische Form gesellschaftlicher Interaktion bei Hofe zu beschreiben.

Ein anderes Konzept von Freundschaft beleuchtete ANDREA STAHL (München) in ihrem Vortrag „Freundschaft zwischen Staatsmännern? Metternich und Wellington zwischen gemeinsamen Erfahrungen und politischem Tagesgeschehen“. Hier ging es, auch aus emotionsgeschichtlicher Perspektive, um die Frage, inwiefern die Freundschaft zwischen zwei der führenden europäischen Staatsmänner der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr war als nur eine enge politische Beziehung. Politisch waren Metternich und Wellington über einen gemeinsamen Erfahrungsraum einander verbunden, nämlich durch die negative Erfahrung der Französischen Revolution und durch die positive des Wiener Kongresses. Stahl zeigte, wie sich über gemeinsame politische Zielsetzungen hinaus eine persönliche, vertrauliche Freundschaft entwickelte, die auch durch Meinungsverschiedenheiten nicht nachhaltig getrübt werden konnte und bis zum Tod Wellingtons 1852 Bestand hatte.

Die Kontextabhängigkeit des Freundschaftsbegriffs wurde auch deutlich in LAURA POLEXEs (Basel) Beitrag „Politikerfreundschaft oder Freundschaftspolitik. Erkenntnisse aus der Betrachtung früher Sozialdemokratie als sozialer Raum“. Polexe beleuchtete die Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung der Zweiten Internationale, indem sie die zentrale Bedeutung sozialdemokratischer Netzwerke offenlegte und deren Grundlagen untersuchte. Innerhalb des spezifischen sozialen Raumes, den sich die Sozialdemokraten schufen, bildete sich eine eigene Sprache, deren Signum unter anderem der inflationäre, undifferenzierte Gebrauch der Worte „Freund“ und „Genosse“ war. Persönliche Freundschaft und proletarische, also politische Freundschaft, so Polexe, wurden von den beteiligten Akteuren ganz selbstverständlich synonym verstanden.

„Können Kommunisten Freunde sein?“ Dieser Frage widmete sich auch DORIS DANZER (München), die über die „Beziehungen deutschsprachiger kommunistischer Intellektueller zwischen 1918 und 1960“ referierte. Freundschaft, Kameradschaft und Solidarität waren in Sprache und Symbolik des Kommunismus so präsent wie in keiner anderen politischen Bewegung. Persönliche Freundschaft aber wurde durch die kommunistische Parteidisziplin ausgehöhlt, wie Danzer am Beispiel dreier Vertreter der „Generation 1900“, Willi Bredel, Wieland Herzfelde und Anna Seghers verdeutlichte. Auch persönliche Beziehungen wurden der uneingeschränkten Linientreue gegenüber der Partei untergeordnet. Freundschaften, die das Politische ausblendeten oder politische Zerwürfnisse überdauerten, so Danzers Fazit, waren im Kommunismus undenkbar.

Das Spannungsfeld zwischen persönlicher Interaktion und politischem Handeln stellte auch HEIDI MEHRKENS (Braunschweig) in den Mittelpunkt ihrer Präsentation „Konkurrenz belebt das Geschäft? Politikerbeziehungen im Europäischen Demokratischen Zentralkomitee 1850-53“. Den nationenübergreifenden Beziehungen zwischen europäischen Demokraten des 19. Jahrhunderts gelte es gerade insofern größere Beachtung zu schenken, als der demokratisch-republikanische Internationalismus dieser Zeit weniger an Institutionen als vielmehr an Personen gebunden war. Dies demonstrierte Mehrkens anhand der kurzen Geschichte des Zentralkomitees, das auf Initiative Giuseppe Mazzinis und Alexandre Ledru-Rollins 1850 in London gegründet wurde. Mit großen Ambitionen ins Leben gerufen, von Gegnern und europäischen Machthabern ebenso gefürchtet wie als „Phantasiebehörde“ geschmäht, scheiterte das Komitee letztlich auch an der Uneinigkeit seiner Führer in zentralen politischen und organisatorischen Fragen.

Den abschließenden Vortrag hielt DANIEL MENNING (Tübingen) über „Die Aufhebung der Fideikommisse des badischen Adels (1919-1926). Familiäre Konflikte und konservative Begriffsverwirrung“. Infolge der nach der Novemberrevolution verfügten Aufhebung der Fideikommisse entfiel nicht nur das Sondererbrecht des Erstgeborenen am adligen Grundbesitz, sondern auch der Anspruch auf Versorgung derjenigen Teile der Gesamtfamilie, die bei früheren Erbgängen leer ausgegangen waren. Die daraus resultierenden familiären Konflikte untersuchte Menning am Beispiel des badischen Adelsgeschlechts von Bodman. In der Darstellung der innerfamiliären Auseinandersetzungen zwischen dem Stammherren und den übrigen Familienzweigen konstatierte Menning eine „konservative Begriffsverwirrung“: Beide Seiten bedienten sich gleicher Begriffe aus dem konservativen Sprachgebrauch, wie „Ehre“, „Familie“ und „Erhalt des Besitzes“, um die Gegenseite unter Druck zu setzen. Damit meinten sie aber unterschiedliche Dinge und verfolgten entgegengesetzte Ziele.

Wenngleich die biografische Forschung nicht mehr unter der steten Beweislast der Wissenschaftlichkeit steht, gilt es nach wie vor, den Mehrwert eines solchen Ansatzes herauszuarbeiten, wie MARTIN H. GEYER und WOLFRAM SIEMANN (beide München) in ihren Kommentaren betonten. Die Beiträge des Workshops demonstrierten, dass dieser Mehrwert darin bestehen kann, verschiedene Formen zwischenmenschlicher Beziehungen und Interaktion zu analysieren. So bietet akteurszentrierte Forschung, die die Bedeutung von Beziehungen und Netzwerken einbezieht, einen vielversprechenden Zugriff, um Biografik und Diskursgeschichte wieder stärker aufeinander zu beziehen. Fragen nach der Rolle einzelner Personen oder Personengruppen für die Kontrolle und die Entwicklung von Diskursen bilden hier sinnvolle Anknüpfungspunkte. Die Diskussion griff überdies zentrale Begrifflichkeiten auf, die für einige der Beiträge Schlüsselpositionen einnahmen und in der biografischen Forschung allgemein eine wichtige Rolle spielen: „Generation“ als zentrales Konzept eines kollektivbiografischen Ansatzes, „Familie“, die auch als soziale Konstruktion zu verstehen ist, und vor allem „Freundschaft“ in ihren verschiedenen zeitgebundenen Bedeutungszusammenhängen.

Konferenzübersicht:

Daniela Gasteiger, Andrea Stahl (München): Einleitung

Christine Hikel (München): Sophie Scholls Schwester. Eigenes und fremdes Leben schreiben

Tamar Amar-Dahl (Berlin): Shimon Peres und die Widersprüche des Zionismus

Daniela Gasteiger (München): Probleme und Zugänge zu einer Biographfie Kuno von Westarps (1864 - 1945)

Claudia Kemper (Hamburg): Netzwerke und Ideen. Über den Zusammenhang von Biographfik und Intellektuellengeschichte

Kommentar von Martin H. Geyer (München)

Thomas Etzemüller (Oldenburg): Wie kann und wie sollte man die Biographfie eines intellektuellen Paares schreiben?

Christian Kühner (Florenz): Politische Freundschaft bei Hofe. Nahbeziehungen als Machtinstrument im französischen Hochadel des 17. Jahrhunderts

Andrea Stahl (München): Freundschaft zwischen Staatsmännern? Metternich und Wellington zwischen gemeinsamen Erfahrungen und politischem Tagesgeschehen

Laura Polexe (Basel): Politikerfreundschaft oder Freundschaftspolitik. Erkenntnisse aus der Betrachtung früher Sozialdemokratie als sozialer Raum

Doris Danzer (München): Können Kommunisten Freunde sein? Beziehungen deutschsprachiger kommunistischer Intellektueller zwischen 1918 und 1960

Heidi Mehrkens (Braunschweig): Konkurrenz belebt das Geschäft? Politikerbeziehungen im Europäischen Demokratischen Zentralkomitee 1850–53

Daniel Menning (Tübingen): Die Aufhebung der Fideikommisse des badischen Adels (1919–1926). Familiäre Konflikte und konservative Begriffsverwirrung

Kommentar von Wolfram Siemann (München)


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts